Es gibt in den Medien immer wieder Geschichten, die mich ob ihrer außergewöhnlichen Komponente faszinieren. Im Studium sollten wir einmal das alltägliche Gespräch eines Ehepaares lesen und verstehen. Das war unmöglich, weil man so viel Hintergrundwissen brauchte, weil so viele Geschichten zwischen beiden stehen, die nur durch ein Wort reaktiviert werden können, dass man auch eine einfachste Kommunikation über das Abholen des Sohnes nur schwermöglich komplett verstehen kann.
Diese Hintergründigkeit des Alltags wurde mir nun wieder bewusst, als ich die absurde Meldung hörte, dass der Trainer des FC Schalke 04 entlassen wurde, weil er eine Ehrenrunde im Stadion vor dem Spiel gedreht hatte. Um diese abstruse Reaktion zu verstehen, muss man die Hintergründe zu klären. Ein wenig Recherche offenbarte zwei verhärtete Positionen, die die Deutungsmacht jeweils für sich beanspruchen: Die Leitung und den Trainer. Am Freitag hatte der Trainer unerwarteterweise angekündigt seinen Vertrag nicht über den Sommer 2006 zu verlängern. Zuvor hatte die Bildzeitung berichtet, dass im Vorstand überlegt werde, den Vertrag nicht zu verlängern. Das liege scheinbar daran, dass das I-Tüpfelchen an Leistung fehle. Rangnick war zwar der erfolgreichste Trainer der letzten sechs Trainer, aber das reiche nicht. Am Freitag sagten beide Seiten noch, dass man professionell bis zum Sommer weiterarbeiten wolle. Am Samstag geschah dann folgende Situation: Die Fans (bei denen Rangnick beliebt ist) wissen um die Brenzligkeit der Situation, wissen, dass ihr Trainer bald nicht mehr da sein wird. Wer nun wen fordert, bleibt unklar, jedenfalls geht Rangnick zu den Fans und “bedankt sich” für das Jahr 2005 bei den Fans. Was die Leitung des Vereins darin gesehen hat, ist nur schwer nachvollziehbar. Es muss ein Affront gewesen sein, der das gesamte zerrüttelte Verhältnis widerspiegelt und von dessen Symbolik sich die Leitung angegriffen gefühlt hat. Wahrscheinlich weil Rangnick in ihren Augen eine Front geschafft hat, die so eigentlich im Fußball nicht existieren sollte. Die Dankesrunde implizierte die Aussage: “Der Vorstand handelt gegen euch (die Fans), die ihr mich offensichtlich verehrt.” Diese Infragestellung konnte die Leitung nicht dulden, wahrscheinlich auch, weil ihr der Wahrheitsgehalt des Vorwurf bewusst ist. Die Demontage des Trainers wurde nur vom Vorstand und den von ihm informierten Medien unterstützt, alle am Fußball Beteiligten (Spieler und Fans) standen auf Seite des Trainers. Dieser Frontenbildung stand der Vorstand machtlos gegenüber und musste zu dem härtesten Mittel greifen, das seine Hilflosigkeit nur noch stärker symbolisiert: Der sofortigen Entlassung. Der Schalke-Manager Rudi Assauer kommentierte dieses Mittel sinngemäß so: “Er hat sich verabschiedet, also ist nun auch Schluss.” Mit dem Trainer ist jetzt Schluss, aber notwendige Debatten kann man mit einem symbolischen Schlussstrich nicht beenden.