Neulich habe ich Klaus Landfried für meine Magisterarbeitsrecherche angerufen. Er war 10 Jahre lang uneingeschränkter Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, 10 Jahre an der Spitze des wohl einflussreichsten Interessenverbandes der Hochschulpolitik, 10 Jahre zerrieben zwischen Konservativität und Modernität.
Als ich ihn also voller Aufregung anrief, ganz zerflossen in dem Wissen, wie schrecklich es für mich gewesen wäre, wenn jemand, nachdem ich in einer solchen machtvollen Position war und ständig die Journalisten von meiner Haustür kratzen musste, wenn also nun jemand meine ureigene Privatsphäre und wohlverdiente Rentenruhe stört, nur weil dieser jemand, dieser poplige Student sich die Nummer aus dem Telefonbuch rausgesucht hat und mich mit seiner nebensächlichen Magisterarbeit belästigt, als ich also in diesem Gefühl dort anrief, stellte ich mir auch vor, wie er gerade beim Abendbrot saß und ich ihn unerlaubterweise dabei störte, in Deutschland soll es ja noch Menschen geben, besonders auch ältere, denen das familiäre Abendbrot heilig ist, im Gegensatz zu all denen, die einfach währenddesssen Fernsehen oder telefonieren, wo die Sitzordnung nicht festgelegt ist, wo nicht alle gemeinsam vom Tisch aufstehen, sondern jeder kommt und geht wie er will, ja, aber die alte Garde gibt es auch noch, da kann man auch nicht so einfach anrufen, da wird dann ganz still gesessen und gewartet, bis das Klingeln vorbei ist, und wenn dann jemand lange klingeln lässt, dann führt jedes Klingeln zu einem kleinen Zucken der linken Augenbraue des Hausherrn, und es herrscht eine drückende Stille, in der alle am Tisch sitzenden ängstlich nach unten schauen und hoffen, dass das Martyrium bald vorbei sei – mit dieser Vorstellung im Nacken rief ich ihn an. Ich wollte es nur dreimal klingeln lassen, um die mögliche Pein für alle Anwesenden so gering wie möglich zu halten. Aber es kam anders.
Er war einer der nettesten, zuvorkommendsten und höflichsten Menschen, mit denen ich je telefoniert habe. Keinerlei Überheblichkeit, keinerlei herablassende Worte, die unseren Status- und Erfahrungsunterschied betrafen. Das ist es auch, was ich an Menschen sehr schätze, wenn sie nicht mehr beweisen müssen, wer sie sind. Und das können gerade viele Professoren nicht.
Das Telefonat war eines der entspanntesten meines Lebens, sicherlich auch weil ich mir durch die obigen Gedanken eine ausreichende Eigenfallhöhe erschaffen hatte.
Früher dachte ich: Macht korrumpiert – Macht macht schlecht. Wer einmal oben war, hat soviel Schlechtigkeiten, soviel Intrigen, soviel Mißgunst erlebt, dass er einfach kein herzensguter Mensch mehr sein kann. Das stimmt nicht.