Nach all diesem sinnlosen Geschriebs mal wieder eine echte Geschichte. Diesmal aus der (vielleicht bald überflüssigen) Kategorie “Was man macht, wenn man Single wird”. Und nebenbei um mal einen Standard für “ungesunde Beziehung” zu setzen. Es wird sehr lang und vielleicht auch lohnenswert. Wer es bis zum Schluss schafft, bekommt einen “Klingsors-Letzter-Superleser”-Button.
Ich erzähle diese Geschichte hier, weil sie mir vor kurzer Zeit von einem völlig Unbeteiligten spontan nacherzählt wurde. Er hatte es über einen Freund erfahren, dem diese Frau, die ab sofort Natalja (sie nennt sich selbst gerne so) heißen wird, alles, wirklich alles erzählt hatte.

I
Ich habe Natalja vor einer Ewigkeit kennen gelernt. Es war ein Poetentreffen, eine Literaturzeitschrift sollte gegründet werden. Ich war sehr jung. Und ich war entspannt, weil ich absolut nichts von dem Abend erwartet hatte. Sie saß zufälligerweise neben mir und fand meine Lockerheit anziehend. Spontan legte sie ihren Arm um mich und begann mir über den Rücken zu streicheln. Ich glaube, sie sagte, so etwas wie, dass ich in ihr “Beutespektrum” fiele. Das war das erste mal, dass ich diesen Begriff gehört hatte und es lief mir zusätzlich zu ihrer Hand ein kalter Schauer über den Rücken. Ich begleitete sie heim und erinnere mich nur noch, dass sie dann komisch war. Sie machte mir die Tür vor der Nase zu. Später sagte sie, ich sei einfach zu extrem in meinen Wünschen gewesen, ich hätte gleich von fester Beziehung und so geredet. Wahrscheinlich war es auch so. Immerhin lud sie mich zu einer zweiten privaten Vorstellungsrunde ein. Leider war ich so aufgeregt, dass ich wohl viel gestammelt habe. An eine schreckliche Szene erinnere ich mich noch: Spontan sagte sie, dass ich doch mein T-Shirt ausziehen solle. Ich war so perplex und machte es dann auch, hatte allerdings da ich sehr jung war und an den Nieren nicht frieren wollte, ein Unterhemd an. Das hat sie scheinbar abgeschreckt. Wir haben uns dann nicht wieder gesehen. Ich bin ab und an noch an ihrem Haus vorbeigefahren: Sie wohnte in einem Zimmer mit Erker. Von außen sah man zwei Erker und ich musste immer an Brüste denken, wenn ich es sah. Das alles ist ewig her.

II
Im letzten Frühling traf ich sie zufälligerweise auf einer Party wieder. Ich war gerade frischer Single. Es kam wie es kommen musste, sie war besoffen, ich hatte Knoblauch gegessen: Wir saßen uns auf der Couch gegenüber, sie erzählte irgendetwas, ich antwortete wohl. Dann küsste sie mich. Die Party lief im Hintergrund weiter. Später begleitete ich sie auf dem Heimweg. Sie sagte Tschüss, küsste mich kurz und ging.
Das war ja alles nur Vorgeplänkel, um die folgende Geschichte besser zu verstehen. Zunächst aber noch eine kurze Beschreibung Nataljas: Sie sieht gut aus. Sie ist arrogant und hochnäsig, verstockt und steif. Sie spricht liebend gern über andere, als würde sie über ihnen stehen, ordnet sie mit Kraftausdrücken in Schubladen. Sie kann das, denn sie schon intelligent. Entgegen ihrer eigenen Steifheit hat sie sich angewöhnt, sprachlich so zu tun als wäre sie es nicht: Sie redet immer offen über alles, über ihr Beutespektrum, über ihre Polygamie, über ihren Sex.
Ihr Gesicht spiegelt all das wider, die ganze Arroganz und das Herabwürdigende. Es zeigt selten eine Emotion, ist mithin ausdruckslos, die einzige Bewegung, die es kann, ist eine Augenbraue betont hochzuziehen.
Diese Natalja wollte ich, obwohl ich all dies wusste, trotzdem treffen. Vielleicht weil es mich reizte, vielleicht aus Masochismus.

III
Auf dieser sinnlosen Party hatte sie mir ihre E-Mail-Adresse gegeben. Also schrieb ich ihr. Sie antwortete mit ihrer Telefonnummer. Wir telefonierten. Sie sagte mir, dass ich sie nicht besuchen könnte, weil sie bei ihrem Freund wohnt. Wir liessen das so stehen. Zwei Wochen später bekam ich eine E-Mail, ob wir uns nicht am Wochenende treffen wollten, da sie dann Strohwitwe sei. Ich rief sie an und sie deutete an, dass wir auch irgendwo übernachten könnten. Als sie mir den Weg dorthin beschrieb, erklingt im Hintergrund plötzlich eine männliche Stimme, die sie bei der genauen Anfahrt korrigiert. Das war ihr Freund – er saß scheinbar daneben.
Das Dumme war eigentlich, dass ich keine Zeit hatte. Aber Sonnabend-Nachmittag nahm ich mir trotzdem frei. Wir trafen uns in Freyberg an der Unstrut. Ich war sehr aufgeregt, auch weil ich tierisch zu spät kam. Mehrere Straßen waren gesperrt gewesen, es war tierisch heiß und ich war durchgeschwitzt. Natalja erwartete mich auf dem Marktplatz in einem geblümten und tiefausgeschnittenen Kleid. Wir setzten uns in ein Eiscafé. Ich war, wie gesagt, müde und fertig, das warf sie mir auch gleich vor. Das Gespräch lief dementsprechend schleppend und ich fragte mich, warum ich gekommen war. Endlich verließen wir Freyburg und fuhren mit den beiden Autos an einen schönen Ort, den sie mir unbedingt zeigen wollte. Da ich sehr angespannt war und wir auch durch die absolute, einsame Pampa fuhren, kam mir der Film-Gedanke, dass dies eine Falle sei und sie und ihr Freund mich irgendwo ausrauben und foltern wollten. Aber das Schloss Goseck war dann doch ein öffentlicher Ort, was mich beruhigte und den Gedanken vergessen ließ. Wir setzten uns zu meinem Bedauern voneinander sehr weit entfernt auf die dortige Ausblicks-Terasse und redeten und redeten. Das ging mittlerweile immerhin. Um sechs wurde das Schloss geschlossen und wir hinaus gesetzt. Immerhin hatte eine kleine Kirche noch auf. Sie war sehr düster, die vorletzten Sonnenstrahlen fielen betont hinein. Wir standen uns vor dem Altar sehr nah gegenüber und redeten über Mut. Zwischen den Zeilen forderte sie mich auf, sie zu küssen. Ich blickte in ihr zu gleichen Teilen ausdrucksloses, erwartendes und abschätziges Gesicht – und konnte nicht. Außerdem kaute sie Kaugummi und strahlte einen latenten Minzgeschmack aus – für mich und meine Küsse sehr abschreckend.
Mit gesenktem Haupt verließ ich die Kirche und dachte schon, dass ich mich wohl nie trauen würde. Wir gingen dann allerdings zu einem kleinen Panorama-Punkt und sie telefonierte mit ihrer besten Freundin. In dem Gespräch deutete sie nebenbei an, dass wir doch noch eine Abendplanung vor uns hätten. Das nahm mir nach meinem Kirchendebakel die Furcht und als wir uns danach wieder gegenüber standen, küsste ich sie. Sie lobte mich danach prompt damit, dass sie solch stürmische Küsse nicht von mir erwartet hätte. Dann planten wir den weiteren Abend. Sie schlug vor Baden zu fahren. Eine gute Idee, dachte ich. Wir fuhren zum Mondsee, der höchstwahrscheinlich irgendwo bei Leipzig liegt. Dort war niemand mehr, wir gingen also prompt ins Wasser. Sie lachte, als sie erklärte, dass sie entgegen ihrer sonstigen anzüglichen Art beim Umziehen sehr schüchtern sei. Ich schaute weg. Im Wasser schwamm sie dann – die Sonne stand tief – mit einer Sonnenbrille und hochgesteckten Haaren. Jeder schwamm seine Bahnen, bis ich den Bann brach. Dummerweise sah sie in diesem Moment einer Jenaer Freundin sehr ähnlich – was ich ihr auch prompt sagte. Trotz dieses Fauxpas kamen wir uns näher. Jemanden mit Sonnenbrille zu küssen ist sehr unangenehm, jedenfalls, wenn man sich nähert. Man sieht verwirrenderweise sich selbst und das in einer Situation, die eigentlich unbewusst und unbespiegelt sein sollte. Aber wenn man es ersteinmal hinter ihre Sonnenbrille geschafft hat … dann schwimmt sie einfach weg. Plötzlich drehte sie sich einfach um und schwamm weg, ohne sich umzudrehen. Das war der erste Moment, an dem ich darüber nachdachte, was das denn für theatralische kindische Spielchen seien.
Wir sprachen aber nicht weiter darüber, sondern fuhren wieder zurück zu ihr nach Hause. Sie telefonierte wieder mit ihrer Freundin und lud sie spontan ein, sich mit uns zu treffen. Also saßen wir auf der Terasse des Hauses ihrer Eltern, die nicht da waren und warteten auf die beste Freundin und ihren neuen Freund. Die Freundin war scheinbar bis vor einem Tag mit einem sehr netten und von allen gemochten Menschen zusammengewesen, hatte dann aber auf dem gestrigen Dorffest, sie kam vom Dorf, einen neuen Macker kennengelernt. Diesen brachte sie auch gleich mit. Er war kräftig und sonnengebräunt. Natalja fragte sie gleich maliziös über ihre Beziehung aus: “Na, ist das jetzt die große Liebe?” Als Vergleich brachte sie unsere Beziehung ins Spiel und streichelte meine Hand. Nach einer halben Stunde war das anstrengende Kammerspiel vorbei.
Wir gingen zu zweit zum Griechen essen. Wir unterhielten uns über irgendwas. Ich dachte an später. Dann war kurz vor Mitternacht und somit auch später. Wir saßen im Wohnzimmer der Familie rum. Es geschah, was noch ausstand: Die Eltern kamen heim und kurz ins Wohnzimmer. Sie fragten nicht, wer ich sei. Ich schüttelte ihre Hände. Dann verschwanden sie lachend im oberen Stockwerk. Sie waren auch beim Griechen gewesen, hatten uns gesehen und scheinbar mehr Ouzo getrunken.
Natalja fragte mich, wie wir das jetzt machen könnten. Sie sagte – ohne Augenzwinkern – oben sei es sehr hellhörig und ihr Zimmer liege genau zwischen dem der Eltern und dem des Bruders. Es gebe aber noch das Gästezimmer unten. Sie zeigte es mir: Eine ausziehbare Couch stand darin. Leider so gestand sie mir, hatte sie die hinteren Kissen gerade erst zu ihrer Oma zur Reparatur gebracht. Daher war die Couch nur halb solang. Ich probierte sie und passte diagonal gerade so drauf. Wir gingen zurück ins Wohnzimmer. Sie machte ein paar Kerzen an. Wir redeten. Sie blies die Kerzen aus. Wir küssten uns. Dann wieder der theatralische Abgang: Urplötzlich entwand sie sich und entschwand ohne sich umzublicken nach oben. Mein Interesse an diesen Spielchen war im Laufe des Nachmittags stark abgesunken, außerdem stellte ich mir meine Sucherei im oberen Stock vor: “Welche Tür ist die Richtige?”. Ich ging zu meinem “Gästebett” und legte mich diagonal und über die tiefe Mittelspalte schlafen.
Um halb sechs wurde die Tür ruppig aufgerissen und ich blickte in das Gesicht ihrer überraschten Mutter. Sie murmelte kurz Entschuldigung und ging. Wie ich später erfuhr wollte sie bloß eine Aufheizung des Hauses durch Herablassen der Jealouisien verhindern. Um sieben Uhr stand ihr Vater in der Tür und entschuldigte sich ebenfalls voller Überraschung. Scheinbar hatten sie nicht miteinander gesprochen. Was er wollte, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Um halb neun kam Natalja und setzte sich wie eine Krankenschwester an mein Bett. Es ging ums Frühstück. Ob ich noch mitfrühstücken wolle – mit ihren Eltern.
So saßen wir wieder zu viert auf der Terasse. Die Eltern interessierten sich überhaupt nicht für mich. Sie schienen sich an ständig wechselnde Typen gewöhnt zu haben. Es muss ein langer Prozess gewesen sein. Das machte es auch einfacher. Ich war für das Schweigen nicht verantwortlich. Aber ich war auch einfach austauschbar, sie nahmen mich glaube ich nicht einmal wahr, sie waren in ihrem eigenen Trott. Sie hatten sich leckere Waffeln gemacht, der Tisch war sehr gut gedeckt. Die Sonne schien. Wir warteten, also insbesondere Natalja, auf das Sonntagsrätsel auf Klassik-Radio. Es dauerte eine Weile und schweigen war sinnvoll. Dann war alles vorbei. Ich hatte überlebt. Ich brachte noch das Geschirr mit ins Haus – ich bin zu höflich erzogen – und verabschiedete mich von den Eltern.
Natalja selbst hatte mir noch etwas Besonderes vorbereitet. Sie stand vor dem Haus und ich ging nachdem ich meine Sachen eingeladen hatte noch einmal zu ihr. Sie stand mir gegenüber. Ich überlegte nicht lange und umarmte sie noch einmal. Aber was war das für eine Umarmung. es war als hätte man eine Puppe umarmt. Sie bewegte sich absolut nicht, war kalt wie eine Leiche. Die Umarmung war wohl die schrecklichste, die ich jemals erlebt habe. Als ich wieder zum Auto ging, war mir aber leicht wie selten ums Herz. Diese Umarmung hatte in einer Klarheit gezeigt, wie unfähig sie war, Emotionen zu zeigen, wie sehr sie schauspielerte. Im Auto lachte ich sehr lange über diese unbeholfene kindische Kälte. Ein wenig Verrücktheit mischte sich auch hinein, in Erinnerung an die abstrusen Erlebnisse. Aber es war auch Erleichterung dabei, weil ich spürte, dass diese Umarmung ein Schlusstrich sein könnte.
Aber leider nicht war.