Neon Online wollte meinen schönen Text über die studentische Wohnkultur nicht. Verständlich. Ich verstehe das voll und ganz. Kindisch wäre es nun sich hier darüber auszulassen. Das dort nur verkappte, pseudohippe Möchtegern-Journalisten sitzen, für die man immer nur das ICH im Artikel tausendmal schreiben muss, ICH, ICH, dann wird es schon ein grandioser und lustiger Artikel, vielleicht noch ein Interview mit einem Psychologen hinterher um DAS ICH zu bestätigen, aber das muss nicht sein, für eine Titelgeschichte reicht es auch schon ICH zu sagen. Insofern ist die Neon das modernste unter allen Magazinen, am nächsten auch an der modernen Philosophie, wobei dort natürlich schon der Ich-Zerfall diagnostiziert wird. Aber damit kenne ich mich nicht aus. Hier aber nun mein neuer Neon-Artikel.

Endlich frei
Aussteigen lohnt sich für viele, nur trauen sich wenige
Damals stand ich auf meinem Balkon, meine Freundin stand hinter mir und sagte plötzlich: “Ich mag nicht mehr weiter. Lass uns aussteigen.” Das war das erste Mal, dass ich wirklich darüber nachgedacht hatte. Wie mir geht es vielen. 90 Prozent der Aussteige-Willigen hatte noch nicht darüber nachgedacht, bevor sie mit ihrer Freundin auf dem Balkon gestanden hatten, konstatiert auch Wilhelm Schuster, Verhaltenspsychologe an der Humboldt Universität. “Es ist die psychische Spannung, wenn man auf das Leben hinab blickt, da lassen viele Menschen von ihren Ängsten ab und ihren Träumen freien Lauf.” Auch ich habe geträumt. Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich zwei Jahre später mit einem Kumpel in einem ehemaligen Bergbaugebiet eine Kindertagesstätte aufmachen würde, hätte ich es nicht gemacht. Denn es war schwer. All die Behörden, die einem Steine in den Weg legen, all die alten Kohlekumpels, die nicht loslassen können, all die Eltern, die sich um die Verschüttung ihrer Kinder sorgen. Meine Freundin hat dann aber gesagt, als wir hinab auf unsere Grube und die darin spielenden Kinder blickten: “Wir haben alles richtig gemacht.” Und gelächelt. “So geht es nicht vielen,” meint der Verhaltenswissenschaftler dazu, “die meisten schaffen einfach den Absprung nicht.” Sie sind wie ein mit Sekundenkleber an die Decke geklebter Gummi-Ball: Er könnte noch fallen, aber je länger er hängen bleibt, desto fester wird er.
Neulich hat uns auch ein alter Schul-Freund mit seiner drogenabhängigen Schwester besucht, die seit Mai clean ist, aber immer noch trinkt wie ein Schlot. Sie wäre beinahe verschutt gegangen, aber wir hatten die Lore festgebunden. Das wäre keine gute Werbung für unseren Bergbau-Erlebnis-Kindergarten gewesen. Dabei wollte mein Kumpel auch ins Geschäft ein- und damit aussteigen. Aber nach der Geschichte besannen wir uns eines Besseren und er sich seines Neides und gründete in der Kaligrube nebenan eine Kinderarztpraxis. Als Aussteiger lebt es sich gut. Wenn es auch oft schwer ist. Ich kann’s nur jedem empfehlen.
Klingsor