Irgendwie irritiert mich das: Wieso steht meine Meinung oft so diametral anderen Meinungen entgegen? Besonders bei Filmen wird das immer wieder deutlich. Gestern sah ich „Slumdog Millionär“ in der Filmarena. Nach dem Film konnte ich mir das Lachen kaum verkneifen, weil ich ihn so klischeehaft und langweilig fand. Die meisten Befragten fanden den Film als gute durchschnittliche Unterhaltung, mehr nicht. Das kann ich verstehen. Aber nachdem ich nun die überaus positiven Kritiken gelesen habe, gerate ich wirklich ins Zweifeln: Wieso wird dieser Film so hoch gelobt? Warum in nahezu allen Rezensionen? Warum gibt es keine abweichenden Kritiker-Meinungen? Was fehlt meinem Blick, was fehlt meinem Verständnis?

Daher nun meine subjektive alternative Kurzkritik, in der ich unpassende europäische Maßstäbe an den Film anlegen werde:

Der Clou an dem Film ist die Erzählstruktur. Sie ist eigentlich elegant gelöst, da sie sich an den Fragen entlanghangelt, aber auch wenn es nötig wird, darüber hinausgeht und die Geschichte voranbringt. Aber die Erzählstruktur ist auch, aus meiner Sicht, ein großes Problem des Films. Zunächst nimmt sie Spannung raus. Man weiß bereits, was passieren wird, da man sieht, in welcher aktuellen Situation sich Jamal befindet. Weit wichtiger jedoch: Sie lässt den Charakteren keine Zeit für Entwicklungen. Was sind das denn für Personen, die da handeln? Sie bleiben blass: der gute und ehrliche kleine Bruder (Jamal), der ins Böse abdriftende ältere Bruder, der sich später besinnt (Salim), und das liebende Mädchen (Latika). Das ist alles. Irgendwelche inneren Entwicklungen gibt es nicht, irgendwelche Probleme werden auch nicht gezeigt. Besonders deutlich wird das, wenn Salim Latika entjungfert, nachdem Jamal aus dem Hotelzimmer geworfen wurde. Man sieht kein Bild für diese grenzenlose Demütigung. Stattdessen trifft er seinen Bruder auf einem Hochhaus wieder und haut ihm eine runter, bravo! (Wahrscheinlich ist die vorhergehende Runterschmeiß-Fantasie das Maximum an Wut, was der Film ausdrücken kann.) Dabei gäbe es soviel, was man hätte filmisch ausdrücken können. Stattdessen soll der Zuschauer die Dramatik in sich selbst aufbauen, soll erahnen, wie schlimm das Dargestellte für die Darsteller sein muss. Der Film erzählt dementsprechend mehr über Gefühle, als dass er sie zeigt. Schön deutlich wird das auch an der interessanten Parallelstruktur der Handlung, als Jamal das Geld gewinnt und sein Bruder zeitgleich im Geld schwimmend erschossen wird. Diese Szene hat zumindest auf mich keinerlei dramatische Wirkung entfaltet, ich habe das eher registriert und gedacht „Aha, nette Symbolik!“. Vielleicht war ich zu diesem Zeitpunkt auch schon zu weit aus dem Film raus, ich würde aber dennoch behaupten, dass der dramaturgische Effekt gerade durch die Stückelung und das damit verbundene Nicht-Entwickeln der Charaktere zerstört wurde.

Das durchgehende Motiv des Füreinanderbestimmtseins wird aber auch nicht filmisch ausgeführt, außer, dass man Jamal regelmäßig seine Müllberg-Liebe (Äquivalent zur Sandkastenliebe) suchen sieht. Diese Besessenheit wird nicht ansatzweise in der Figur Jamal geklärt, auch sein Bruder wundert sich regelmäßig darüber. Sie ist wohl als Form der romantischen Liebe zu verstehen.

An dieser Stelle kommen wir zum zweiten großen Problem des Films: Die Klischeehaftigkeit. Mag sein, dass Bollywood-Filme das zelebrieren, aber die präsentierten Klischees sind ja durchweg auch europäische Klischees – sonst hätte der Film wohl auch in Europa nicht so wirken können. Das Füreinanderbestimmt-Sein duchtrieft den Film. Ich kann das nicht mal halbwegs neutral beschreiben, weil mich das extrem nervt, welche Liebesbilder durch solche Filme erzeugt werden und vom Publikum scheinbar auch insgeheim geteilt werden. Vielleicht ist es ja als Märchen zu verstehen, als Form der Flucht aus einem schrecklichen und komplizierten Alltag in eine sauber aufgeteilte Welt von gut (der Held Jamal und seine Geliebte Latika) und böse (alle anderen).
Abgesehen von der Müllberg-Liebesgeschichte ist aber auch der Rest der Story märchenhaft hanebüchen. Besonders die Beantwortung der Fragen ist extrem an den Haaren herbeigezogen: Plötzlich erscheint den beiden wegrennenden Jungen eine Gottheit in Form eines anderen kleinen blau eingefärbten Jungen (Was fehlt mir um das zu verstehen?). Plötzlich hat Jamal einen Hundert-Dollar-Schein zur Hand und gibt ihn dem blinden Jungen (Aha!). Und das mit dem Colt weiß er, weil sein Bruder mit just solch einer Waffe (steht ja meist auch der Erfinder und die Entstehungsgeschichte mit drauf) den Obergangster erschossen hat (Nicht schlecht!). Aber ich werde kleinlich. Am schlimmsten ist natürlich das Ende des Films, das wurde ja sogar in einigen Kritiken bereits angemerkt. Ich war sogar dankbar dafür, dass Jamal in der Szene am Bahnhof noch über die Gleise gehen muss. Ich konnte mir dabei so wunderbar vorstellen, wie das Jamal samt dem schnulzigen Happyend von einem Zug weggerissen worden wäre. Immerhin durfte dann noch die Sonne zwischen den beiden durchscheinen – seufz, ein Liebesfilmklassiker.

Aber vielleicht auch noch was Positives: Die Musik ist überdurchschnittlich gut eingesetzt, die Kamerafahrten sind auch zum Teil sehr gut. Die beste Szene aus meiner Sicht: Als der Polizist Jamal vorhält, dass seine fünfjährige Tochter diese Frage hätte beantworten können, entgegnet Jamal mit Beispielen aus seiner Lebenswelt (Fahrrad geklaut), dass das ja jeder Fünfjährige in seinem Viertel wisse.

Alles in allem also ein mäßiger Film, der durch seine Struktur langweilig und charakterlos inszeniert ist. Das Drehbuch trieft zudem vor Klischees und an den Haaren herbeigezogenen Erklärungen. Im Grunde treffen hier auch Teile der Inszenierungskritik von Batman zu: Der Film wird nicht spürbar für den Zuschauer und die Charaktere werden nicht mit filmischen Mitteln ausgefüllt, sondern der Zuschauer muss die Gefühle der Darsteller erahnen und selbst hinzufügen. Vielleicht ist das ja der neue Trend.