Jena ist das München des Ostens! Freudetaumelnd lagen wir uns heute in den Armen. Das hatten wir nicht erwartet. Glückstrunken schluchzte ein Freund von mir: „Man sieht sich ja so selten von außen, und dann … (unverständlich, weil ihn die Freude übermannte) … ja, ja, und da weiß man nie, wo man steht.“ Ich pflichtete ihm gedankenversunken bei und meinte, treu dem Motto unserer Universität zum Jubiläum 2008 bereits heute folgend: “Wir leuchten, wir leuchten!” Und dann, als ich meinen kleinen Fauxpas bemerkt hatte (es heißt ja “Lichtgedanken”), ergänzte ich schnell noch: “Wir denken, wir denken!” Dann stimmten wir alle in einen Chorus ein und sangen die alte Volksweise “In Jene investierts sich bene”. Anfangs waren wir nur wenige, die um den alten Hanfried standen und unser Lied trällerten, doch dann gesellten sich die Touristen zu uns, die Mütter, die Rentner, die Studenten, die Arbeitslosen, der Stadtrat, die Skinheads, die Punks und ihre Freunde, die Manager, die Intershopper und die Fleischer. Später, noch mit dem Lied und der Harmonie im Ohr übertrugen wir die frohe Botschaft in jedes Fensterlein und zu jeder Tür hinein.

Als es dann wieder ruhiger wurde und sich die Sonne unserer Freude dem Westen und damit dem Untergang zuwandte, kamen auch schon, wie es sich für eine so hochphilosophische Stadt am Abend gehört, die hochphilosophischen Gedanken zurück.

Ich verfasste ein kleines Pamphlet, dass es gefährlich sei, sich als Elite zu definieren, dass man mit Anschlägen rechnen müsse, wenn die soziale Kluft zum Umland noch größer werde, und man möglichen innerjenensischen separatistischen Tendenzen bereits heute zuvor kommen müsste. Ich schrieb, dass wir als Leuchtturm die soziale Pflicht hätten, unserem Umland und dessen Bevölkerung den Weg aus ihrer lichtlosen und düsteren Existenz zu leuchten und ihnen trotz ihrer strukturellen Defizite ein positives Beispiel zu sein. Als ich fertig und die Tinte getrocknet war, stieg ich auf den Turm und ließ das Pamphlet auf Jena hinabsegeln. Als ich sah, dass sich mein philosophisches Manifest banalerweise in einem Looping der stillgelegten Minigolfbahn unterhalb des Turms verfangen hatte, stieg ich hoch enttäuscht in mein unaufgeklärt gebliebenes Jena hinab und begann mich tief enttäuscht dem Stammtischphilosphieren hinzugeben.

Als ich mein tiefschwarzes Schwarzbier vor mir sah, wurde mir etwas glasklar: Das schöne ist, dass wir München sind, ohne Münchner sein zu müssen. Wir müssen nun nicht überkandidelt durch die Straßen lustwandeln, müssen nicht karrieregeil an den Fahrstühlen in die obersten Etagen der Hochhäuser Sturm lecken, müssen nun nicht tagein tagaus nur noch oberflächlich Konversation betreiben, um dann abends mit rotschalumhangen Kunstkenner-Bekannten Vernissagen mit nasaler Stimme und herabhängender Hand als imposant zu loben. Nein, wir bleiben Jenaer: Wir haben weder Hochhäuser, von denen man Pamphlete segeln lassen oder deren sozialen Fahrstuhl man belagern kann, noch haben wir Kunst hier, die sich rotweingoutierend bestaunen ließe. Das wird uns wohl weiterhin vor dem schlimmsten bewahren.