Gestern erlebte ich meine erste Bloglesung. Es lasen in Leipzig Don Dahlmann, Felix Schwenzel, Katharina „Lyssa“ Borchert, Don Alphonso, Thomas Knüwer und Madame Modeste. Die Links zu den gelesenen Geschichten und die Bilder der Lesung findet man bei Thomas Gigold. Andere (äußerst positive) Eindrücke findet man in der Heldenstadt. Wer sich diese Seiten vorher angeschaut hat, sei gewarnt, hier folgt nun eine Aussenseitermeinung.

Was mir von Anfang an klar war: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der einen Blog schreibt, die darin enthaltenen Geschichten auch vorlesen kann, ist äußerst gering. Das ist ja bei den meisten Autoren so. Bei einigen Bloggern war allerdings die Vortragsfähigkeit äußerst gering ausgeprägt. Es wäre vermutlich um einiges lustiger geworden, wenn beispielsweise Felix Schwenzel seine Texte nicht gelesen hätte (was er nicht konnte, weil er, wie er im zweiten Teil selbst bemerkte, keinerlei Interpunktion las), sondern einfach frei Anekdoten erzählt hätte. Madame Modeste war ähnlich schwer zu folgen, weil sie ihre quasiliterarischen Texte, ebenso interpunktionslos vor sich hin säuselte. Positiv hervorzuheben (von der Leseleistung) war Thomas Knüwer, der sich immerhin Mühe gab und seine Novela-ähnliche Geschichte mit verteilten Rollen las. Die anderen drei lasen zwar eher unterbetont, aber doch relativ routiniert.
Im Grunde war eine solche Verteilung der Vortragskompetenz zu erwarten gewesen. Was ich allerdings nicht wusste, war, was die Blogger lesen würden. Was liest man von den vielen Einträgen, die man über Jahre verfasst hat? Die beteiligten Blogger waren scheinbar zu dem Schluss gekommen, dass sie Kurzgeschichtenähnliches vortragen sollten (eine äußerst positive Ausnahme gab es, aber dazu später). So durfte man dann alltäglich-banalem ICH-Sagen lauschen – also den Anekdoten, die die Blogger höchstpersönlich erlebt hatten (beispielsweise eine Koloskopie oder einen Arztbesuch oder eine Schulgeschichte) und die sie mit (wenig interessanten) erklärenden Aussagen über sich (beispielsweise Unsportlichkeit) anreicherten.

Aber als Geschichtenschreiber waren diese Blogger eher durchschnittlich begabt. Sicherlich, sie konnten ihren Alltag besser beschreiben als der Durchschnittsdeutsche. Das bedeutet allerdings noch nicht, dass sie irgendwie begabt sind im Geschichtenschreiben – das können tausende Möchtegern-Literaten besser. Was ihre eigentliche Begabung ist, warum man ihren Blog liest, konnte ich bei der Lesung absolut nicht erkennen. Jeder, der seinen Alltag nur halbswegs wahrnimmt, könnte solche Geschichten schreiben. Jeder, der nur 10 Minuten über eine Sache nachdenkt, könnte auf die Gedankenspiele und Pointen kommen. Das Problem war: Es gab nichts neues, nichts unerwartetes, nichts überraschendes. Man könnte das als Lesernähe oder Authentizität bezeichnen. Ich wurde allerdings wieder auf die Frage zurückgeworfen: Warum lesen Menschen (diese) Blogs? Ist das nur eine Einmann-Daily-Soap? Ist das der durchschnittliche Popliterat von neben an, der mir kostenlos jeden Tag ein paar Texte liefert? Oder konnte in der Lesung vielleicht einfach nicht das vorgeführt werden, was Blogs ausmacht?

Ich tendiere zur letzten Version, ich hoffe zumindest, dass es so ist. Wenn man Blogger ihres Netzumfeldes beraubt, werden sie zu ganz normalen Geschichtenschreibern, die ihre eigenen Geschichten noch nicht einmal gut vortragen können. Ich kann jedem nur empfehlen, sich lieber irgendwelche Popliteraten anzuhören als Blogger. Was Popliteraten schreiben, ist meist darauf ausgelegt, vorgetragen zu werden. Es besitzt einen Sprachrhythmus, eine eingewobene Sprachmelodie. Und außerdem: Sie können ihre Texte zusätzlich zu diesem textlichen Vorteil auch noch adäquat vortragen. Allerdings sind die Inhalte der Popliteraten meist ähnlich. Vortragende Blogger sind daher die schlechteren Popliteraten.

Fiktionalität ist das, was ich vermisst habe. Die meisten vorgetragenen Texte waren in meinen Augen nicht fiktional, sondern nur leicht fiktional überhöht. Das Reale macht diese Geschichten langweilig. Wozu sollte ich mir Geschichten gesprochen anhören, die ich auch jeden Tag selbst erleben kann. Ich finde es wichtig, dass man versucht, wenn man schon die eigenen Erlebnisse in einem Text verarbeitet, darin den Sprung vom Speziellen zum Allgemeinen zu schaffen oder aber das Erlebte so deutlich fiktional zu übersteigern, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Das ist zumindest dann wichtig, wenn man nicht von einer außergewöhnlichen oder pointierten Situation erzählen kann.

Unter all den alltäglichen Geschichten stachen lediglich die von Don Dahlmann gelesenen etwas hervor, da sie die Grenze zwischen Realem und Fiktiven ausloteten. Eine bemerkenswerte Ausnahme gab es allerdings von den Kurzgeschichten-Versuchen: Don Alphonso las einen Text über das Imari-Porzellan und die Globalisierung. Allein die geschichtliche Entfernung, die diese Geschichte zu all den anderen durchschnittlichen ichverhangenen Kurzgeschichten hatte, machte sie so herausragend. Ein sehr schöner und runder Text mit einer feinen Pointe.

(Diesen Text hätte ich aber vermutlich niemals bis zu Ende gelesen, wenn er nicht vorgetragen worden wäre. Das ist auch die besondere Ironie einer Bloggerlesung: Die Blogger lesen extra lange Texte, die in der Blogosphäre niemand bis zu Ende gelesen hätte, weil dort die Aufmerksamkeit weitaus begrenzter ist.)

P.S. Es war übrigens schade, dass die Lesenden nur strikt ihre Texte lasen und kaum eine Beziehung zum Publikum, beispielsweise durch kleine Anekdoten, aufgebaut haben. Ich vermute, das hätten die meisten Blogger ohne Weiteres gekonnt.

Foto: Gruppenbild der Lesenden von Daniel Große