Es ist immer wieder die Relativität, die mich umtreibt. Selbst wenn ich nun in meinem eigenen Blog nachlese und feststelle, dass ich bereits vor anderthalb Jahren glaubte, sie überwunden zu haben – diese Fragen kehren wie in Wellen zurück.
Dass man nicht mit jedem Menschen eine Freundschaft haben wird, diese Erkenntnis ist zwar geblieben. Aber die Einsicht, dass selbst die noch so krudeste Handlung, selbst die noch so verwirrteste Weltsicht in sich gefestigt und schlüssig ist, ist nur schwer zu verkraften. Die meisten Menschen glauben, dass ihr Verhalten richtig und gut sei, selbst dann noch, wenn sie andere damit offensichtlich schädigen. Nur ein paar Mini-Beispiele: Der Typ, der eine Freundin von mir extrem beleidigt, weil sie in der Bahn ihre Füße (auf ihren Mantel und) auf den Sitz legt, wird zuhause davon berichten, wie verroht doch die Sitten in diesem Land sind. Die Immobilientante, die versucht, uns aus der Wohnung rauszudrängen, indem sie meiner neuen Mitbewohnerin keinen Mietvertrag mehr gibt, wird mit ihrem kleinen Neugeborenen zuhause stehen und denken, dass sie richtig und im Interesse des Vermieters handelt. Die ehemalige Mitbewohnerin einer Freundin, die diese nun verklagen will, weil sie ihren (fiktiven) Anteil der Küche nicht ausbezahlt bekommt, wird ihrem Freund gegenüber über die unerwartete Gemeinheit dieser Freundin klagen. Und all diese Perspektiven sind in sich schlüssig. Ich wüsste nicht, ob ich die Gegenperspektive einnehmen könnte, wenn diese Personen mir ihre Geschichten aus ihrer Sicht erzählen würden. Sicherlich gibt es auch Maßstäbe, an denen Handlungen oder Weltsichten in unserer Gesellschaft beurteilt werden können – beispielsweise das Gesetz. Doch selbst dann, wenn dort über Streitfälle diskutiert wird, gehen meist beide Parteien im Gefühl des eigenen Rechthabens auseinander.
Dieses Nebeneinander an Deutungen funktioniert, unabhängig von juristischen Fragen, sowieso nur solange, bis einer mit seiner Deutung in die Freiheit des Anderen eingreift und diesem missionarisch seine eigene Weltsicht und die damit verbundenen Handlungen überstülpen will. Ein klassisches Beispiel für mich ist dabei der Umgang mit den eigenen Eltern. Meine sind übervorsichtig, sie denken, die Welt ist eine Gefahr und alle Menschen wollen nur das Schlechteste. Diese Weltsicht werde ich nicht ändern können. Ich weiß allerdings, dass man das auch anders sehen kann – das Problem ist nur, dass sie das nicht wissen. Für sie ist das ein Fakt – sie haben noch nicht einmal die Ahnung, dass sie selbst das früher vielleicht sogar anders gesehen haben, dass ihre Einstellung möglicherweise aus übergeneralisierten Erfahrungen entstanden ist.
Doch wie geht man mit all den Menschen um, die kein Bewusstsein für die Relativität ihrer eigenen Position haben? Muss man nicht, wenn man diese Relativität erkannt hat, auch immer berücksichtigen, dass die Position der Anderen ebenso berechtigt sein könnte? Muss man dann nicht immer auch doppelte Arbeit leisten – für sich selbst und für den anderen? Während man selbst auf den anderen zugeht und die eigene Position relativiert, wird all das ironischerweise vom anderen nur als ein „Endlich-hat-er-es-Eingesehen“ gedeutet. Ist das nicht ungerecht? Wäre es nicht viel einfacher blind zu sein und stur den eigenen Ansichten zu glauben und auf die eigenen Handlungen zu vertrauen?

Bild: Der Film „Rashomon“ zeigt drei Perspektiven auf ein scheinbar eindeutiges Geschehen. (Quelle: IMDB)