Früher hat mich immer wieder ein gewisser Relativismus umgetrieben. Ich konnte oft nicht sauer auf Menschen sein, weil ich versuchte, ihre Position und deren Berechtigung zu verstehen. Ich habe dann einen rationalen Schritt zurück gemacht, zurück hinter all die innere Ablehnung und Abneigung.
Irgendwie wollte man doch bei allen Menschen beliebt sein. Und wenn es Probleme gab, dann waren das doch nur Spiegelungen der eigenen Unvollständigkeit. Jedes Problem deutete auf einen inneren Wesenszug hin und war in diesem Sinne wichtig – man musste daran arbeiten. So schuf ich mir immer wieder rationale Brücken über emotionale Widerstände. Und wenn die Brücke wieder einmal einzustürzen drohte, musste ein Metagespräch geführt werden. Das Erstaunliche aber ist, aus heutiger Sicht, dass es immer wieder dieselben Einstürze gab, dass ich immer wieder zum gleichen Punkt kam: Der Punkt, an dem die vorgeschobene Rationalität wegfiel und all die Emotionen, die man so sorgsam wegrelativiert und wegpsychologisiert hatte, wieder hervorbrachen. So als habe man diesen Menschen und all die innere Ablehnung, die er auslöst, gerade erst kennengelernt.
Dieser Relativismus basierte bei mir auch auf der Erfahrung, dass sich Beziehungen sehr schnell ändern können und dass man nie wissen kann, wer einem in einem Jahr was bedeuten wird. Aber diese Vorstellung ist ebenso überholt wie übertrieben. Es wird immer Menschen geben, die selbst auf einer einsamen Insel nie meine besten Freunde werden. Es gibt ganz offensichtlich Passungen mit anderen Menschen und dementsprechend bestimmte Wesenszüge, mit denen ich nie umgehen können werde (beispielsweise Arroganz). Das klingt banal. Aber wenn eine Erfahrung eine andere widerlegt und damit ein altes, lang gehegtes Prinzip („Sei bei allen beliebt“) zerbricht, dann ist das schon bemerkenswert.
Das Erstaunlichste ist ja eigentlich, und das ist mir in letzter Zeit immer wieder aufgefallen, dass man sich selbst im Laufe der Jahre immer besser kennenlernt. So als habe man sich vorher gar nicht gekannt, als habe man einen fremden Körper rumgeschleppt, fremde Gedanken geäußert, fremde Beziehungen geführt. Aber vielleicht lernt man sich auch gar nicht kennen, sondern erfindet sich vielmehr, macht sich zum Menschen, macht sich sichtbar.