Ich habe schon oft darüber nachgedacht, wie sich Erinnerungen eigentlich formen und je nach Gegenwart verändern. Passenderweise habe ich auf der Fusion einen schönen Text von Max Frisch zum Verhältnis von Erlebnis, Erfahrung und Erzählung gelesen. Frisch ist der Ansicht, dass sich das Erlebnis eigentlich erst in der nachträglichen Erzählung formt und dass man eine Erfahrung im Gegensatz zu einem Erlebnis eigentlich nicht erzählen kann. So konnte ich meine Verarbeitung des Erlebnisses „Fusion“ quasi live verfolgen.
Die Erzählung verführt zur Vereinfachung des Erlebten, zur Bewertung und zur Anekdotisierung. Alles war scheiße auf der Fusion! Dauerbeschallung mit anstrengender Musik, durchgehend Regen, vollgeschissene Dixiklos, hinzu kam noch meine eigene Krankheit. Das erzählt sich gut. Negatives lässt sich meist leichter erzählen. Natürlich war es nicht nur so. Die Erzählung von Positivem erfordert meines Erachtens mehr Zeit, mehr Einlassen, mehr Öffnung. Es kommt auch stark auf den Gesprächspartner an: Hat er Zeit, hat er Interesse an der ganzen Geschichte? Die meisten haben das aber nicht. Je mehr Zeit ist, desto tiefer kann die Erzählung eines Erlebnisses gehen.
Aber was ist denn überhaupt ein Erlebnis, was ist überhaupt erzählbar? Wenn ich sage: „Es gab eine schöne Feuershow! Ich habe wunderbare Künstler gesehen.“ Das reicht nicht. „Ich habe einen „Feuer-Jedi“ gesehen, der mit einem riesigen Feuerball an einer Kette eine ziemlich krasse Show hingelegt hat.“ Schon etwas anschaulicher. Aber immer noch keine Erzählung, es fehlt die dahinterstehende Erfahrung oder eine Pointe. Vielleicht so als Erfahrung: „Sowas habe ich vorher noch nie gesehen.“ Oder doch wieder mit negativer anekdotischer Abrundung: „Er hat sich zum Schluss mit seinem Feuerball am Fuß verheddert, hat sich aber nichts anmerken lassen. Das sah ganz schön gefährlich aus. Er ist danach auch ein wenig gehumpelt.“ Aber was habe ich denn damit erzählt? Die Erfahrung meiner Freude an der Feuershow kann ich damit kaum spürbar machen, abgesehen davon, dass das auch gar keine so besonders einschneidende Erfahrung war – es war halt schön anzuschauen. Vielleicht destilliert sich aber aus der Erzählung letzten Endes auch eine andere neue Erfahrung. Dann gäbe es zwei Formen der Erfahrung: Die Erfahrung des Moments, die möglicherweise gar nicht so überwältigend war, und die Erfahrung aus der Erzählung, die sich aus der Zusammenführung all der Erlebnisse ergibt. Das wäre dann so etwas wie die Moral der Geschichte: „Ich bin zu alt für Festivals.“
Was sich jenseits der nur schwer übertragbaren Erfahrung erzählen lässt, sind Anekdoten. Das ist für den Zuhörer angenehm, da er dann – je nach Fähigkeit des Erzählers – einen Spannungsbogen geboten bekommt. Tragisch ist oft nur, dass viele Erzählungen sich dieser Struktur unterwerfen. Nicht jedes Erlebnis hat einen Spannungsbogen. Eigentlich schafft erst die Erzählung einen solchen Überbau – und oftmals auch Ausbau. Meine frühere Mitbewohnerin war eine Meisterin darin, auch banale Geschichten so auszubauen, dass sie wunderbare Anekdoten wurden. Wenn man bei einem Erlebnis selbst dabei war, konnte man diese Umformung live mitverfolgen. Bei ihr hätte nach der zweiten Erzählung, der Fuß des Feuer-Jedis gebrannt. Das spannendste aber war: Sie vergaß durch die wiederholte Erzählung nach und nach, dass es nicht so war. Sie glaubte ihre eigene Erzählung. Das ist vielleicht einer der wichtigsten Aspekte der Erzählung: Wir werden glauben, dass es so gewesen ist, wie wir es uns erzählen.
Dieser Entwicklung zu entkommen, ist nur schwer möglich. Es fallen viele Aspekte einfach weg, wenn man sich einmal für eine Erzählung entschieden hat. Die Erzählung besteht dann meist aus der oben genannten „Moral der Geschichte“, der destillierten Meta-Erfahrung, und ein paar Anekdoten, die sich mit jeder neuen Erzählung stärker an das Ereignis binden und meist immer pointierter vorgetragen werden. Es entsteht ein zum Ereignis gehöriger Anekdotenpool, alle schlecht erzählbaren Erfahrungen und alles Unanekdotische verblassen. Max Frisch hat dafür den treffenden Ausdruck der „anekdotischen Erstarrung der Vergangenheit“ gewählt.
Die eigene Erzählung der Vergangenheit noch einmal aufzubrechen, erfordert viel: Man braucht eine neue Erzählstruktur, ein neues inneres Motiv. All die Erzählungen von Ereignissen fügen sich ja zu einer Erzählung des Selbst. Bestimmte Persönlichkeitsmotive und -linien werden anhand der neuen Erzählungen weitergeführt. Die Frage ist nur, welchem Motiv das Ereignis zugeordnet wird, für die Fusion böte sich beispielsweise das Folgende an: „Ich werde älter und meine Einstellungen ändern sich.“ Zwischen all den Erzählungen bleiben aber auch unverbundene Fetzen der Erinnerung übrig. Das sind vermutlich die Erfahrungen, die zu einschneidend waren, um vergessen zu werden, aber in die Grundstruktur der Ereignis-Erzählung nicht eingefügt werden konnten. Vielleicht sind sie noch unverarbeitet oder aber auch einfach nur unerzählbar privat. Eine spannende Frage wäre hier natürlich auch, inwieweit die Erzählung des Ereignisses oder gar des Selbst einen Anderen braucht oder ob sie nicht auch im Inneren stattfinden kann. Und: Wird sie im Inneren dann überhaupt so anekdotisch strukturiert? Aber das sind Fragen, die hier nicht mehr geklärt werden können.
Die übriggebliebenen Fetzen der Erinnerung sind meines Erachtens nach auch wieder aktivierbar, nämlich dann, wenn sich Ähnlichkeiten zwischen ihnen erkennen lassen und ein dazugehöriges Motiv im Leben auftaucht. Vielleicht könnte man so, mit genügend Mut und Erinnerungsvermögen, sein Leben auch ganz anders erzählen. Oder um kleiner anzufangen, zumindest einzelne Ereignisse. Nur habe ich leider bisher noch kein Motiv gefunden, um doch noch schreiben zu können: Die Fusion war toll.