Ich bin bisher immer davon ausgegangen, dass Menschen genau das machen, was sie gut können. Dass die Yogalehrerin eine große innere Ruhe hat und deshalb Yoga-Kurse anbietet. Dass der Trainer für gewaltfreie Kommunikation vielleicht Opfer von Gewalt geworden war und deshalb die Gewaltfreiheit predigt. Dass der Buddhist die Ruhe in sich spürt und sie deshalb auch immer wieder sucht.
Aber das ist nur die Ebene des momentan Sichtbaren. Mittlerweile habe ich erkannt, dass Menschen gerade das sind, was sie nicht sein wollen. Oder, um es ein wenig abgeschwächter zu formulieren, dass das, was sie nicht sein wollen, für sie ein großes Thema ist: Die Yogalehrerin gibt Yoga-Kurse, damit sie nicht mehr hilflos ihren spontanen Gefühlsausbrüchen ausgeliefert ist. Der Trainer für gewaltfreie Kommunikation macht dies, um einen Weg zu finden, sein inneres Gewaltpotential zu befrieden. Der Buddhist, der beständig das eigene Selbst leugnet, hat ein extrem starkes Selbst, das er mit seinen Meditiationen immer wieder zu zähmen versucht.
Man erkennt diese Grundmotivation, den dahinter liegenden Kampf gegen sich selbst irgendwann nicht mehr – es wird umso schwerer, je mehr derjenige mit seiner inneren Befriedungsvariante verschmilzt. Aber ich würde behaupten: Je extremer jemand ein Thema vorantreibt, ja vielleicht sogar Kurse gibt oder die Wahrheit seiner Erkenntnisse predigt, umso größer arbeitet genau das Gegenteil in ihm, umso stärker spürt er das, was er ablehnt.
Ein interessanter Aspekt ist natürlich auch, warum er diesen Teil von sich ablehnt. Das ist wahrscheinlich stark durch die Art der Erziehung und durch die (darin vermittelte) gesellschaftliche Erwünschtheit bestimmt. In einer Gesellschaft, die Gewaltanwendung strikt ablehnt, bzw. diese auf bestimmte Gruppen beschänkt hat (Polizei, Militär), gibt es keinen Kanal für die Wut und das Zerstörungspotential, das in manchen Mitgliedern schlummert. Der einzig akzeptierte, weil durch Regeln eingehegte Weg ist hier wohl der Sport. In einer Gesellschaft, in der der Egoismus und das Durchsetzen der eigenen Ziele im beruflichen Bereich so weit oben stehen, aber dennoch im privaten, zwischenmenschlichen Bereich nur selten auf dieselbe Weise akzeptiert werden, gibt es keinen adäquaten Kanal für das übersteigerte, narzistische Ego. Vielleicht gerade noch im künstlerischen Schaffen, auf all den Bühnen und in all den Galerien.
Welchen Weg man für sich persönlich wählt, hängt vermutlich von der Stärke des wahrgenommenen Drucks ab. Allerdings kann man die strikten Gegenbewegungen, beispielsweise in Form der Leugnung des Selbsts, vielleicht auch als ein Indiz dafür sehen, dass die gesellschaflichen Anforderungen immer schwerer auf ihren Mitgliedern lasten und die Angebote des Ausgleichs nicht mehr ausreichen.