Warum kann die Vergangenheit nicht einfach nur sein, einfach nur feststehen? Warum muss sie sich immer wieder aufschwingen und sich mit vollem Herzen an den Interpretationen der Gegenwart beteiligen?
Sollte letzten Endes der wehleidige Spruch, für den ich „Magnolia“ immer gehasst habe, doch stimmen? „We may be through with the past, but the past ain’t through with us.“ Wahrscheinlich gilt er zumindest für ältere Menschen, bei denen die vergangene Erlebnisse unbewusst in den Kopf schießen. Vielleicht sind sie aber gerade deshalb der Vergangenheit so ausgeliefert, weil es, allen neurophysiologischen Notwendigkeitspostulaten zum Trotz, keine gelebte und soziale Gegenwart mehr gibt, die ihnen als Ausgleich dienen könnte und anhand derer sie sich bewusster in die Gegenwart hinein projezieren könnten.
Die Vergangenheit dient, solange man lebt, als Konstruktionsmasse des gegenwärtigen Selbst. Sie ist der Weg, der zum jetzigen Standpunkt geführt hat. Aber je nachdem, wie sich im Moment die Wetterlagen ändern, wie sich die Haltepunkte verschieben, wie sich Abgründe oder Felswände auftun, so wandelt sich auch der Blick auf den zurückgelegten Weg. Das einzige, was helfen kann, diese Unstetigkeit der Vergangenheit, diese Abhängigkeit von der Gegenwart zu mildern, sind Brücken des Fatalismus oder der Notwendigkeit. Im ersten Fall sagt man sich „Es war halt so“. Man erschafft damit eine Neutralität der Wahnehmung, man erzwingt eine Nulllinie der eigenen inneren Beteiligung. Im zweiten Fall sagt man sich „Es musste alles so sein“. Alle Stränge der Vergangenheit laufen dann auf das jetzige Selbst hinaus, sie führen zwangsläufig dahin. Eine schöne, saubere Konstruktion, die allerdings alle Unwägbarkeiten, alle Dissonanzen des Weges bewusst ausblendet.
Beide Brücken haben natürlich ihre Berechtigung. Es erscheint ja kaum möglich, die Vergangenheit stetig emotional präsent zu haben – alle innere Aufgewühltheit über vergangene Ereignisse wird sich mit der Zeit legen. Und man wird sich auch den Weg konstruieren, den man beschritten hat, indem man die Erlebnisse zu passenden Stationen des Weges macht. Wenn man sein Leben als Leidensgeschichte oder als Abstieg erzählen will, wird man die dazugehörigen Episoden finden.
Und dennoch, auch wenn ich mir das alles zusammenreimen kann, wenn ich all das weiß, will ich doch, dass meine Vergangenheit kein Spiegel meiner Gegenwart ist. Sie soll einfach feststehen, als sei sie in Stein gemeißelt, einfach stillstehen, so wie eine Gemäldegalerie, durch die ich bei passender Gelegenheit wandeln kann. Stattdessen wandelt meine Vergangenheit durch die Stadt und geht auf Konzerte. Aber das ist noch eine andere Geschichte.