Ach, der Möglichkeitssinn! Robert Musil beschreibt ihn in einem Teil seines „Mannes ohne Eigenschaften“. Für ihn ist dieser Sinn im Gegensatz zum Realitätssinn (der Menschen hilft, sich in ihrer Wirklichkeit zurechtzufinden) ein Sinn, der Menschen befähigt, sich zu fragen, ob es nicht auch anders sein könnte, ob das gegebene alles so sein muss. Er bezeichnet Menschen, die mit diesem zusätzlichen Sinn ausgestattet sind als Träumer und Kreative. Ich habe mich oft gefragt, wieso er diesen Sinn so verherrlicht und all das Negtive ausspart:

Ist der Möglichkeitssinn nicht genau der Sinn, der das Paradies schafft, das immer nur nebenan sein kann? Ist er nicht das Einfallstor für einen heillosen Perfektionismus. Was anderes kann Möglichkeitssinn in unserer heutigen übermedialisierten Welt sein als Anleitung zum Zwang und zur Angst. Ich weiß nicht, ob er es damals auch war, ob er nicht bereits damals die Kreativen in Massen in die Knie gezwungen hat, sie gezwungen hat, an ihren Vorstellungen, an ihren Erwartungen zu leiden und zu Grunde zu gehen. Vielleicht hat der Möglichkeitssinn sie erst in die Kunst getrieben, nicht, weil sie nur dort ihrer überbordenden Fantasie freien Lauf lassen können, sondern, weil sie einen Kanal brauchen, um mit all diesen Möglichkeitsanrufungen umzugehen, um die Vorstellungen in einem anderen Medium als ihnen selbst zu fokussieren und zu ver“wirklich“en. Die Möglichkeitvorstellung an sich enthebt einen in einer konkreten Situation immer doch nur der Wirklichkeit, man stellt sich über sie und belächelt sie. Sie ist Schutz und Flucht, aber nicht nur. Sie ist auch voller Schönheit – eine heimliche Liebeserklärung an die Vielfalt der Welt. Das Schreckliche an diesen Vorstellungen ist nur, dass diese „Es könnte auch anders sein“-Idee auch nicht vor schönen, freien Momenten halt macht. In negativen Alltagsmomenten spiegelt sie all das, was schöner und besser sein könnte, sie hilft einem. In erhabenen, positiven Momenten zeigt sie einem all das, was man in diesem Moment ausblenden möchte, all das Schlechte und Negative. Das ewige Denken der anderen Möglichkeit macht Menschen kaputt, es zerpflückt die Wirklichkeit in Konjunktive. Kurzum: Es verhindert das Jetzt-Sein.

Wieso nur stellt Musil das als so positiv dar? Vielleicht war die Zeit damals so wissenschaftsversessen, so wirklichkeitsgläubig, dass er einen Kontrapunkt setzen wollte. Vielleicht ist in unserer Zeit aber auch nur die Gegenvorstellung eines esoterisch aufgeladenen Jetzt-Seins hinzugekommen, das ein ewiges Anderssein des Jetzt verhindern und die moderne Erkenntnis der Konstruiertheit des Selbst überwinden will. Eine Gegenbewegung die nur noch auf die Gegenwartssinne fokussiert ist und damit den Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit aufhebt.